In Die kleine Figur meines Vaters von Peter Henisch stellt Peter seinem Vater, Walter, viele Fragen über seine Geschichte als Kriegsberichter für die Nazis. Es ist ganz klar, daß die Fotografie für Walter Henisch sehr wichtig ist. Aber warum, und wie? Es ist nicht nur Walter Henisch das Individuum, sondern Walter Henisch der Fotograf, was seine Geschichte interessant macht.
Auf der einen Seite gab es den Walter, der eine gespaltene Persönlichkeit hatte: eine Persönlichkeit, die menschlich war, und eine andere Persönlichkeit, die nur fotografisch war. In diesem Sinne funktioniert Fotografie als eine Katharsis, weil sie die Grausamkeit des Kriegs von menschlichen Verpflichtungen und Gefühlen distanziert. Aber es gibt auch die Sichtweise, daß Fotografie nur als eine Aufzeichnung der Fakten funktionert, und eine Diskussion darüber bringt diesen Aufsatz zum Schluß. Hoffentlich wird dieser Aufsatz erklären, was Fotografie für Walter tut und warum er fotografiert, aber auch wie sie (die Fotografie) seine Perspektiven ändert.
Walter macht während des ganzen Textes die Unterscheidung, daß er alle Situationen in zwei Bedeutungen sieht: eine menschliche Bedeutung und eine fotografische Bedeutung. Das beste Beispiel vielleicht ist seine Beschreibung, als er ein brennendes Haus fotografiert:
Wenn ich vor einem brennenden Haus stehe, und ich sehe, wie die Leute aus den Fenstern springen, so wird mir das als Mensch furchtbar leid tun. Als Fotograf aber wird es mir Motiv sein, und ich werde, den Finger am Auslöser, davor stehen, knien oder liegen und lauern. Und mein Fotografengehirn wird nichts anders im Sinn haben als die genaue Entfernung, die richtige Belichtungszeit und die entsprechende Blende. Und wenn die Frau, die soeben aus dem vierten Stock springt, genau am zweiten Stock vorbeikommt, drück ich ab. (Henisch 38-39)
Eigentlich ist es nicht nur, daß er diese Situation aus zwei verschiedenen Perspektiven interpretiert, sondern auch, daß er das Chaos und die Grausamkeit des Krieges in zwei Teile einteilen muß, um sie auszuhalten. Fotographie, sagt Susan Sontag in ihrem Buch On Photography ist ein Mittel um Macht zu erwerben. Sie schreibt: “To photograph is to appropriate the thing photographed. It means putting oneself into a certain relation to the world that feels like knowledge—and, therefore, like power” (Sontag 4). Dieses Gefühl von Macht hilft einem, sich der Illusion der Kontrolle hinzugeben.
Zusätzlich ist es nicht nur die Kontrolle, sondern auch die Bequemlichkeit, die Fotografie ihrem Fotografen gibt. Sontag beschreibt dies folgendermaßen: “As photographs give people an imaginary possession of a past that is unreal, they also help people to take possession of space in which they are insecure” (Sontag 9). In dieser Passage benutzt sie Touristen als Beispiel, aber es bezieht sich auch auf Kriegsberichter und ihre Unsicherheit. Walter drückt diese Idee von Fotografie als eine Quelle der Bequemlichkeit mit anderen Wörtern aus, indem er Fotografie mit Alkohol vergleicht: “Für den die Begeisterung, für jenen den Alcohol, für mich die Fotografie” (Henisch 47). Er beschreibt Fotografie auch als etwas, die ihn versteckt: “Die Kamera ist mein Talisman, sagt er, die Kamera ist mein Feigenblatt – ohne Kamera fühle ich mich gefährdet und nackt” (Henisch 37).
Diese Dichotomie zwischen der Menschlichkeit und der Fotografie ist aber vielleicht mehr als ein Widerspruch zwischen der Erkenntnis und der Unwissenheit. Die Motivation des Fotografs ist, Schönheit und Kunst überall zu finden. Für den Mensch scheinen Kriege schrecklich, aber für den Fotografen geben Kriege, wie alle anderen Ereignisse, gute Gelegenheiten für Fotos. Hier beschreibt Walter sein Gefühle von dieser fotografischen und menschlichen Perspektive:
Aber die besten Kriegsbilder, … ja wahrscheinlich die besten Bilder meiner ganzen fotografischen Karriere, habe ich in Russland gemacht. So viel wie in Rußland ist nie zuvor und wahrscheinlich auch nie mehr danach vor meiner Kamera passiert. Menschlich gesehen war das natürlich eine Tragödie, aber vom fotografischen Standpunkt… Ich hätte nichts daran ändern können und habe wenigstens versucht, für mich das Beste herauszuholen. (Henisch 61)
Dieser “fotografische Standpunkt” ist nicht ein kleiner Aspekt dieser Dichotomie. Tatsächlich beschreibt Sontag es als den springenden Punkt dieser Debatte: “The history of photography could be recapitulated as the struggle between two different imperatives: beautification, which comes from the fine arts, and truth-telling” (Sontag 86). Dieser historische Kampf ist doch ein Kampf in Walters Leben, wie wir in den letzten paar Beispielen gesehen haben. Dieser Kampf spielt sich nicht nur auf der Mensch-Fotograf Ebene ab. Es gibt auch eine Anspannung zwischen der Wirklichkeit und der Kunst.
Walter Henisch macht seinen Beruf, weil er Kunst ist, aber er übt ihn auch aus weil er (sozusagen) eine ganz objektive Tätigkeit ist. Fotografien, glaubt er, sind unabhängig, und es macht nichts, für wen man fotografiert. Diese Idee ist nicht außerordentlich, und viele Leute sehen Fotografien als ganz sachliche Darstellungen der Welt an. Sontag sagt: “Photographs furnish evidence. Something we hear about, but doubt, seems proven when we’re shown a photograph of it… The picture may distort; but there is always a presumption that something exists, or did exist, which is like what’s in the picture” (Sontag 5). Seine Beziehung zu Fotografie ist aber rätselhafter; er kommt zu der Erkenntnis, daß sein Werk Kunstgriff hat, aber er behauptet auch, daß sein Fotografien nur Bilder der Wirklichkeit sind. Diese widersinnige Einstellung geht Hand in Hand mit seiner gespaltenen Fotograf-Mensch Persönlichkeit. Sein Verständnis von seinen Fotografien ist vielleicht nicht nur auf ihn beschränkt. Wie Ron Burnett, in seinem Buch Cultures of Visionerklärt, ist es ein kulturelles Verständnis (oder Missverständnis), das die Fotografie und die Wirklichkeit miteinander verschmilzt:
At the institutional and cultural level there is nothing to prevent the photograph from being separated from the image. The choice, once it is made, tends to transform the observer’s gaze into a function of the photograph, which… naturalizes the artifice of the exchange. The result is a reversal of image and photograph with the latter taking precedence over the former in a chain of relations then described as representational. (Burnett 59)
Diese Besessenheit mit der Fotografie führt dazu, daß die Prioritäten vertauscht werden. Die Begriffe, die am wichtigsten sind, scheinen nur sekundär, und die Begriffe, die nur sekundär sind, scheinen am wichtigsten. Durch die Fotografie ist alles umgekehrt. Diese Umkehr wird durch Walters Fotos aufgedeckt; sie wird auch durch Walters Perspektive aufgedeckt (wenn sie nicht das gleiche sind).
Ein Beispiel, das diese Idee demonstriert, befasst sich mit einer Situation, in der Walter die Realität für ein Foto manipuliert. Walter erzählt die Geschichte von den zwei Brüdern, die getrennt waren und sich dann wieder “tief in der Taiga” getroffen haben. Das Treffen der Brüder fasziniert Walter, und er sagt: “Na klassisch, denk ich. Eine pfundige Story! Nur jammerschad, daß keiner sie fotografiert hat. Oder, wenn man es recht bedenkt, gottseidank. Was noch nicht fotografiert ist, kann’s ja noch werden” (Henisch 85). Dann hat er dieses Treffen zwischen den Brüdern noch einmal gemacht—und diesmal hat jemand es gefilmt, nämlich Walter Henisch. Dieses Treffen war für ihn die Wirklichkeit und eine Fassade: fotografisch die (oder eine) Wirklichkeit und andererseits nur eine Fassade.
Aber die Umkehr der Prioritäten wird auch durch Walters Denkweise klar gemacht, als er den Krieg im Hinblick auf Bilder beschreibt: “Ich habe den Krieg… von Anfang bis zum Ende als eine Folge von Bildern gesehn. Der ganze Zweite Weltkrieg liegt heute als ein riesiger Stoß von Bildern vor mir.” (Henisch 59) Diese umgekehrte Beschreibung Walters demonstriert, wie Fotografie die Ansicht des Fotografen verwirrt. Vilém Flusser beschreibt sehr klar diesen Austausch: “Their interest is concentrated on the camera; for them, the world is purely a pretext for the realization of camera possibilities” (Flusser 26-27). Die Welt war für Walter unbedingt etwas, was er durch seine Kamera sah.
Fotografie ist vielleicht schwer zu verstehen, weil es für manche Leute nicht nur ein Beruf, sondern eine Lebensweise ist. Für Walter funktioniert die Fotografie als eine Katharsis, weil die fotografische Hälfte der Persönlichkeit sich von der anderen Hälfte der Grausamkeit distanziert. Die Fotografie wirkt auch als eine ganz selbständige Denkweise: Walter, als ein Fotograf, sieht die Welt als eine Aneinandernfolge von Bildern. Wer ihn verstehen möchte, sollte nicht nur die eine oder die andere interpretation der Fotografie anschauen, sondern beide.
Bibliographie
Burnett, Ron. Cultures of Vision: Images, Media, and the Imaginary. Bloomington: Indiana University, 1995.
Henisch, Peter. Die kleine Figur meines Vaters. Salzburg: Residenz, 1993.
Flusser, Vilém. Towards a Philosophy of Photography. London: Reaktion Books, 2000. trans. Anthony Mathews
Sontag, Susan. On Photography. New York: McGraw-Hill, 1977.